Im Jahr des Drachen

Geschrieben von Mechthild. Veröffentlicht in Buecher

Leseprobe

Ein starker Gegenwind ist aufgekommen. Ich quäle mich für ein paar Kilometer ein Seitental hoch und schlage mein Lager an einem Bach auf. Drei Motorradfahrer halten an, legen sich bäuchlings vor das Zelt und knabbern Erdnüsse. Die Atmosphäre ist entspannt. Einer der Männer zeigt auf mein Zelt und zieht ein paar Geldscheine aus seinem Wams. Er will es mir abkaufen. Amüsiert frage ich: „Und wo soll ich dann schlafen?“ „Ab Maqen brauchst du kein Zelt mehr!“, meint er. – Wirklich? Von meinem Lebensstil hat er offensichtlich keine Ahnung. In der Dämmerung stehen die drei jungen Männer auf, setzen sich auf ihre Motorräder und fahren davon.
Ich lege mich schlafen und male mir die Zukunft aus. Maqen ist das Ziel meiner Träume. Dort wird es alles geben, was das Herz begehrt: gutes Essen, ein warmes Bett und eine heiße Dusche. „Dort kannst du sogar Geld tauschen!“, hatte der Polizist in Jiqzhi gesagt. Maqen würde die Rückkehr in die lang vermisste Zivilisation bedeuten. „Spinnst du?“, meldet sich die Gegenstimme. „Maqen liegt inmitten des Graslandes. Gar nichts wird es dort geben! Kein fließendes Wasser und schon lange keine Dusche!“
Ich wache auf und höre ein hauchfeines Schaben auf dem Zelt. Es schneit! Landschaft und Piste liegen unter einer zwanzig Zentimeter dicken Schneedecke! Eingeschneit! Was jetzt? Die in Watte gehüllte Welt erscheint mir grau und trostlos. Zwei Lastwagen brummen heran, hupen und verschwinden im Nebel. Seit Tagen trete ich auf der Stelle und bewege mich in weniger als vierzig-Kilometer-Schritten, obwohl ich den ganzen Tag über sieben bis acht Stunden auf dem Fahrrad sitze und gegen das Geröll, Schlaglöcher, aufgeweichte Stellen und Wellblechpisten ankämpfe. Es ist lächerlich! Mindestens einen Monat zu früh bin ich ins Hochland aufgestiegen. Kein Wunder, dass in viertausend Meter Höhe noch Winter herrscht. In Maqen würde ich die Tour abbrechen und diesen Wahnsinn beenden. Jawohl! Ich werde mit dem Bus nach Xining fahren, nehme ich mir vor. Genug ist genug! Das Vorhaben konnte nur einer Schnapsidee entsprungen sein!
Vielleicht kommt ja noch ein dritter Lkw aus dem Dorf, stelle ich mir vor. Dann hätte ich mehr Glück als Verstand. Seufzend packe ich und trete die Schneewanderung an. Wie lange ich wohl schieben muss? Komme ich überhaupt noch irgendwo heil und wohlbehalten an? Meine Spuren verschwinden schnell unter dem herabfallenden Schnee. Kaum bin ich einen halben Kilometer gelaufen, als ein Pick-up von hinten naht. Das Wunder geschieht! Ich winke und der Fahrer hält sofort an. Ich bin gerettet. Ich werfe Rad und Gepäck auf die leere Ladefläche. Bequemer kann das nicht sein!
Ein Sitz im Führerhaus ist noch frei. Ich quetsche mich zwischen eine Frau, die Frau des Fahrers, wie ich erfahre, und einen alten Tibeter, der seine Mantras murmelt. Der Fahrer ist achtunddreißig, seine Frau zweiunddreißig. Er redet und lacht viel und spuckt aus dem Fenster. Ein paar Kilometer weiter wird die Schneedecke dünner und füllt schließlich nur noch die Kuhlen der unsäglich schlechten Piste. Oft weisen nur ein paar Spuren über die Grasplanken der jetzt ansteigenden Hochebene den Weg. Dreimal brausen wir durch wadenhohe Flüsse. Eine Felsenkette zur Linken hängt in schmutzig grauen Wolken. Hin und wieder liegt ein tibetisches Anwesen in der Einöde. Der Fahrer hält in der Nähe eines Hauses an. Eine Frau und Kinder nähern sich, die Haare verfilzt, die Kleidung speckig vor Schmutz. Der kleine Junge steht in seinem zerlumpten Mantel ohne Mütze im Wind. „Pass auf deine Sachen auf!“, sagt der Fahrer. Diese Leute können alles gebrauchen. Sie kämpfen ums Überleben. Der Fahrer fragt die Frau etwas und wir fahren weiter.
Als es auf die Viertausendmetergrenze zugeht, japst der Motor. Er bockt und streikt bei kleinsten Steigungen. Noch vor der Kuppe bleibt das Fahrzeug stehen. Wir steigen aus und schieben. Der Motor springt an und der Fahrer fährt ein Stück voraus. Wir laufen hinterher, dem menschenfeindlichen Wetter preisgegeben.
Über ein schräges Zwischenplateau erreichen wir eine riesige Ebene. In einer klitzekleinen Siedlung besuchen wir eine befreundete Familie unseres Fahrers. Die Leute bitten uns in einen kleinen Raum mit gestampftem Erdboden und Lehmwänden. Wir setzen uns auf den Boden an den niedrigen, lang gezogenen Lehmofen. Die Frau des Hauses reicht uns Tsampa und Buttertee. Das Mehl auf dem Boden der Schale verrühren wir mit unseren schmutzigen Fingern mit dem Buttertee und stecken die Teigrolle in den Mund. Sie schmeckt mir. Die alte Frau mit dem freundlichen Gesicht dreht ununterbrochen ihre Gebetsmühle und lässt die Perlen ihrer Gebetskette durch die Finger gleiten. Trotzdem beteiligt sie sich an der angeregten Unterhaltung. Die beiden jungen Frauen sind sauber und hübsch, eine von ihnen cremt sich gerade ihr Gesicht ein. Nachdem wir uns aufgewärmt haben, verabschieden wir uns.
Die besser gewordene Piste folgt den Schwingungen der Landschaft. Strommasten ziehen sich durch das Gelände. Unser Fahrer fährt wie der Henker, prescht mit Vollgas über ein Schneefeld und – plops – die Eisdecke bricht. Wir stecken fest. Die Häuser Maqens sind zum Greifen nah.
Der Fahrer schlägt mit der Schüppe eine Rinne über den Weg, damit das Wasser abfließen kann. Der alte Tibeter und ich gehen ins Grasland und schleppen Steine herbei. Mit einem Wagenheber liftet der Fahrer die Hinterräder und legt Steine darunter. Die Frau, der alte Mann und ich schieben, was das Zeug hält. Aber wir sind nicht stark genug, der Wagen sinkt schon wieder ein. Aus Maquen naht ein Jeep, der sofort hält. Zwei Männer steigen aus, um zu helfen. Zwei Motorradfahrer kommen auch noch dazu und mit Hilfe der vier starken jungen Männer wird der Wagen schließlich befreit.
Durch ein chinesisches Tor fahren wir in die Stadt hinein. Zu beiden Seiten der breiten, geteerten Hauptstraße liegen niedrige, gekachelte Häuser. Der Fahrer hält an einer Spritzanlage an, um seinen Pick-up säubern zu lassen. Ich nehme meine Sachen, bezahle für die Fahrt und suche nach einer Unterkunft. In der Nähe eines zweiten chinesischen Torbogens finde ich das Hotel des Städtchens. Eine junge Frau lässt mich ein. Im Rezeptionsraum stehen Tische und Rohrsessel! Ein Kanonenofen bullert und strahlt wohlige Wärme aus. Die Zimmer liegen im ersten Stock. Das Hotel ist sauber, sogar die Bettwäsche strahlt blütenweiß. Auf dem Flur befindet sich eine Toilette mit Wasserspülung! Und was sehe ich? Eine Dusche! Abends um acht Uhr sei das Wasser heiß, sagt der junge Inhaber. Ich setze mich im Rohrsessel an den Ofen und die junge Frau schüttet pausenlos Tee in meine Tasse nach. Ihr Mann bereitet eine schmackhafte Mahlzeit zu: Omelett, Reis und Gemüse. Wie lecker das alles ist. Und am Abend wasche ich unter der Dusche die Dreckschicht von zwölf Tagen ab. Sauber und glücklich falle ich ins saubere Bett.
Die Sonne verschafft sich morgens Bahn, kann aber die Winterkälte zunächst nicht vertreiben. Erst am frühen Nachmittag erwärmt sich die Luft. Auf einem kleinen Markt in einer Seitenstraße sitzen Schuster, Schneider und Schlüsselmacher. Chinesen, Tibeter und die moslemischen Hui bewohnen den gesichtslosen Ort. Die schneebedeckten Felsenberge im Süden wirken eisig und riesig.
In der Waschanlage spritze ich „Tiger“ mit einem Volldruckschlauch ab, kaufe Proviant ein und probiere an einem Stand süßen Reiskuchen mit gebackenen Pflaumen. Auf dem Schotterhof der Herberge überprüfe ich mein Fahrrad. Eine Speiche des Hinterrads sitzt locker. Diesmal ist sie einfach anzuziehen. Ich schraube den Nippel an der Felge auf, zentriere das Rad und der Schaden ist behoben.
Die Besitzer des Hotels haben einen fünfjährigen Sohn. Sie machen einen glücklichen Eindruck. Er kocht, sie putzt. Sie ist patent und praktisch und hat alles, was ich wissen wollte, telefonisch herausgefunden. Ein Geldwechsel sei immer noch nicht möglich, mein Visum könne ich bei PBS (Public Security, Büro für öffentliche Sicherheit) verlängern lassen. Sie geht mit. Eine Polizistin bittet uns in ihr Büro und schreibt ihre Fragen in Englisch auf: Wohin ich wolle, etwa nach Dayi? Das sei geschlossenes Gebiet, für Ausländer gesperrt, aber sie würde mir einen Erlaubnisschein ausstellen! Nett, aber ich fahre nicht zurück. Ich erkläre, dass ich über Mantan nach Maqen gekommen sei und nicht über Dayi. Ja, das sei auch verboten, ob ich das wüsste. „Davon weiß ich nichts, und nun bin ich ja auch hier“, gebe ich kund. Sie drückt den Stempel für die Verlängerung des Visums in den Pass. „Macht hundertfünfundsiebzig Yuan!“, sagt sie. Ich falle fast vom Stuhl. So viele Yuan habe ich gar nicht mehr in der Tasche, nur in US-Dollar kann ich die Rechnung begleichen. Ich versuche, sie mit fünfzehn US-Dollar bei einem Kurs eins zu acht zufriedenzustellen, dann mit zwanzig US-Dollar. Sie kennt den Kurs und kann rechnen. Sie quetscht noch zwei weitere Dollar aus mir heraus und gibt mir glatt einen Yuan zurück!
Im Hotel richtet der junge Mann ein hervorragendes Abendessen für mich an: geschnetzelten grünen Salat mit Gehacktem und zwei Eiern. Dazu esse ich Brotfladen. Die leckere Mahlzeit ist die beste Stärkung für den vierhundertvierzig Kilometer langen Endspurt nach Xining. Die Wirtsleute versichern, dass die Straße von jetzt an asphaltiert ist. So will ich die Fahrt mit dem Rad fortsetzen, statt mit dem Bus.